Benutzer:Fisch-WMDE/Kartoffel (Slang)
Kartoffel ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für Menschen mit vermeintlich deutschem Aussehen oder deutscher Herkunft. Sie kann abwertend, aber auch humorvoll oder als Selbstbezeichnung verwendet werden.
Begriffsverwendung und -geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die pejorative Verwendung des Wortes Kartoffel ist keine Erscheinung des 21. Jahrhunderts; bereits seit den 1960er Jahren wurde „Kartoffelfresser“ in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere von italienischen Gastarbeitern als Pendant zu ernährungsbezogenen Bezeichnungen wie „Spaghettifresser“ benutzt.[1] Für das 19. Jahrhundert benennt das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1854 „mancherlei scherz“, der mit der Bezeichnung Kartoffel getrieben wurde, etwa mit den „Kartoffelsachsen“ in den Herzogtümern oder den Bewohnern des Erzgebirges, die man „Kartoffelwänste“ nannte, „weil die kartoffeln oft ihre einzige nahrung sind“.[2]
Heute wird der Begriff Kartoffel in unterschiedlicher Auslegung zur Bezeichnung des Deutschen an sich verwendet.[3][4] Sowohl von Sprechern als auch im öffentlichen Diskurs wird Kartoffel oft als Schimpfwort eingestuft, mit dem Deutsche herabgesetzt oder beleidigt werden sollen. Die Bezeichnung lässt sich auf das Vorurteil zurückführen, wonach Deutsche überdurchschnittlich viel und häufig Kartoffeln verzehren.[3][4] Diese klischeehafte Annahme erweist sich nur bedingt als richtig, wie der EU-weite Vergleich zum Pro-Kopf-Verbrauch von Kartoffeln zeigt. Deutschland liegt der Studie zufolge im unteren Mittelfeld.[5]
Der Ausdruck kann somit auch als Reaktion auf Schimpfworte wie „Kümmeltürke“ oder „Spaghettifresser“ verstanden werden und folgt dem Muster, Essgewohnheiten als Teil der eigenen Identität und als Abgrenzungsfeld gegenüber anderen Gruppen zu verwenden.[6] Andererseits wird Kartoffel auch als humorvolle gegenseitige Bezeichnung in der Jugend- und Alltagssprache[7] oder in Medien[8] aufgegriffen. So wird der Begriff etwa in der ersten Folge Türkisch für Anfänger (2006) verwendet, in der die Figur Cem die deutschstämmigen Protagonisten Lena und Nils mit den Worten: „Na ihr Kartoffeln“ begrüßt.[6]
Zuletzt kann Kartoffel auch als Selbstbezeichnung mit positiver oder ironischer Konnotation genutzt werden, beispielsweise innerhalb der Hip-Hop-Szene[9] und als positive Aneignung durch die ursprünglich so beschimpfte Gruppe[10] (Geusenwort).
Nicht zu verwechseln ist die Bezeichnung „Kartoffel“ mit dem Ausdruck Kartoffeldeutsche, der für die in Süd- und Mitteljütland eingewanderten deutschstämmigen Familien verwendet werden kann.
Kontroversen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Begriff „Kartoffel“ spielte in Debatten um eine umstrittene Deutschenfeindlichkeit eine Rolle. Als solche bezeichnete beispielsweise im Jahr 2010 die damalige Familienministerin Kristina Schröder in einem Interview in der ARD ein Problem,[11] das sich auch darin äußere, wenn vor allem Kinder und Jugendliche als „deutsche Kartoffel“ bezeichnet würden. Auch solche Beleidigungen seien eine Form von Rassismus. Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting und Grünenchef Cem Özdemir forderten als Reaktion darauf ein konsequentes Einschreiten gegen solche Verhaltensweisen,[11] der Grünen-Politiker Sven-Christian Kindler bezeichnete Schröders Äußerungen dagegen als „pseudowissenschaftliche[n], gefährliche[n] Quatsch“.[12]
Julian Reichelt wurde im Jahr 2018 von dem Verein der „Neuen deutschen Medienmacher“ für den Preis der „Goldenen Kartoffel“ nominiert,[13] um die „unterirdische Berichterstattung“ der Bild-Zeitung über die Einwanderungsgesellschaft zu würdigen. Er lehnte den Preis daraufhin ab und begründete dies unter anderem mit der Aussage, Kartoffel sei auf Schulhöfen mittlerweile eine „Beschimpfung geworden, die sich tatsächlich auf Rasse und Herkunft bezieht und das ist in keiner Weise liebevoll gemeint“.[14][15]
Der Begriff tauchte auch in der Diskussion um die Probleme der deutschen Fußballnationalmannschaft nach dem frühzeitigen Ausscheiden bei der Weltmeisterschaft 2018 auf. Laut eines Spiegel-Artikels soll es im deutschen Team eine Trennlinie zwischen selbsternannten „Kanaken“, zu denen neben Spielern mit Migrationshintergrund wie u. a. Jérôme Boateng und Mesut Özil auch Julian Draxler gehört habe, und „typischen Deutschen“ wie Thomas Müller oder Mats Hummels, gegeben haben.[16][17] Der Unterschied zwischen diesen Gruppen habe vor allem im Lifestyle der Spieler bestanden, so hätten sich die extravaganter lebenden „Kanaken“ bisweilen über den Lebensstil der „Kartoffeln“ lustig gemacht. Nationalspieler İlkay Gündoğan und der bis 2017 im DFB-Team aktive Lukas Podolski erwiderten in Reaktion auf diese Berichterstattung, dass Sprüche untereinander stets als Spaß zu verstehen waren.[18]
Verwendung in der Musik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Auch im Deutschrap und im deutschsprachigen Punk findet der Ausdruck „Kartoffel“ als Bezeichnung für Deutsche in Songtexten Verwendung. Nachfolgend einige Beispiele:[3]
- 187 Strassenbande – „Ein Code“ – Liedzeile: „Und auch Kartoffeln, die Kanacken beschützen“[19]
- Yassin – „Haare Grau“ – Liedzeile: „Bin der erste Kanacke, den Kanacken nicht feiern, und bald die erste Kartoffel an einem Galgen in Bayern“[20]
- Ali As feat. Pretty Mo – „Deutscher / Ausländer“ – Liedzeile: „Ey, du Kartoffel, was läuft?“[21]
- Audio88 & Yassin – „Schellen“ – Liedzeile: „Das wird man ja noch sagen dürfen, als ein stolzer Sack Kartoffeln“[22]
- Fler – „Schrei nach Liebe“ – Liedzeile: „Du redest von Kartoffeln, man merkt, dass du ein Bauer bist“[23]
- Der Hamburger Musiker Jan Delay veröffentlichte 2006 das Stück „Kartoffeln“. Darin singt er unter anderem: „Ich bin 'ne Kartoffel und ich bin cool damit“[24]
- JAW – „Fremdkörper“ – Liedzeile: „Denn für deutsche Kartoffeln ist dieser Swag nicht umsonst“[25]
- KC Rebell feat. Kool Savas – „Spiegel“ – Liedzeile: „wo sie meinten: ‚Entscheide dich! Kartoffel oder Kanake?‘“
- Liquit Walker – „Deutschrapkanakke“ – Liedzeile: „Abgestempelt als Kartoffel, wenn man anders läuft“
- K.I.Z. – „Was willst du machen?!“ – Liedzeile: „Wir boxen dich zu Kartoffelbrei, Ali, Murat, Rajid“[26]
- PTK – „Deutscher als du glaubst“ - „Ich hab alle Kulturen der Welt in meinem Freundeskreis, aber trotzdem kommen mir manchmal noch Kanaken mit Kartoffelsprüchen“[27]
- Egotronic feat. Emilie Krawall – „An die Wand“ – Liedzeile: „Wir stell’n ganz Deutschland an die Wand, jetzt sind mal die Kartoffeln dran“[28]
- NMZS – „Freaks 'n' Geeks“ – Liedzeile: „Das ist Rap für Versager, Musik für Gemüse, Kartoffelrap, Untergrund plus sehr viel Stärke“[29]
Varianten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Schauspielerin und Kabarettistin Idil Baydar lässt ihre Kunstfigur Jilet Aysil regelmäßig den Begriff Süßkartoffel als Anerkennung für „Kartoffeln“ mit wünschenswertem Verhalten verwenden. So kommentierte sie die Teilnahme zahlreicher Prominenter an einer Aktion zum Tag der Pressefreiheit 2017 unter Bezugnahme auf den in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel:
„Deniz steht für was, was wir alle brauchen: Meinungsfreiheit. Wenn ich keine Meinungsfreiheit habe, dann kann ich nicht sagen: Ihr Scheißkartoffeln, hört auf mit Leitkultur!“ Hier aber sind alle Ayses Süßkartoffeln: ‚Ihr geht mit uns in Solidarität, und ich schwöre, ihr kriegt das tausendfach zurück.‘“
„Kartoffel-Affäre“
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Abseits der Verwendung von Kartoffel als Zuschreibung für Deutsche hatte die Tageszeitung bereits den früheren, aus Polen stammenden Papst Johannes Paul II. auf ihrer Satire- und Humorseite Die Wahrheit regelmäßig „Kartoffel“ genannt.[31] Am 26. Juni 2006 beschrieb sie im gleichen Rahmen, für TAZ-Leser erkennbar bezogen auf diesen Gag, den polnischen Präsidenten Lech Kaczyński sowie seinen Zwillingsbruder und damaligen Ministerpräsidenten Jarosław Kaczyński unter der Überschrift „Polens neue Kartoffel“[32] als politisch unerfahren und einfältig. Die darauf folgende Absage politischer Gespräche zwischen Frankreich, Deutschland und Polen (Weimarer Dreieck) durch die polnische Regierung führten politische Analysten auf Verstimmungen wegen der so genannten Kartoffel-Affäre zurück.[33][34]
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Maria Paola Tenchini: Zur Semantik der ethnischen Schimpfnamen. Lingue e Linguaggi 10 (2013), S. 125–136, insbesondere S. 127 f.
- ↑ Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Hrsg.: Jacob und Wilhelm Grimm. Band 11. Leipzig 1854, S. Spalte 244–245 ([1]).
- ↑ a b c Pierre Kurby von BedeutungOnline: Was bedeutet „Deutsche Kartoffel“ / Kartoffeldeutsche? In: Bedeutung Online. 26. Juni 2018, abgerufen am 9. April 2019.
- ↑ a b Ursula Bertels, Claudia Bußmann: Handbuch interkulturelle Didaktik. Hrsg.: Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung e.V. Waxmann, Münster, New York, München, Berlin 2013, ISBN 978-3-8309-7889-3, S. 23.
- ↑ Pro-Kopf-Verbrauch von Kartoffeln in den EU-Staaten im Jahr 2016 (in Kilogramm pro Kopf). In: Statista. Abgerufen am 9. April 2019.
- ↑ a b Christopher Kloë: Komik als Kommunikation der Kulturen: Beispiele von türkischstämmigen und muslimischen Gruppen in Deutschland. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-17201-5, S. 238.
- ↑ Eva Neuland: Jugendsprache. UTB 2397. A. Francke Verlag Tübingen und Basel, Tübingen.
- ↑ Anna Kemper: Schimpfworte. Wir Kartoffeln. In: Zeit Magazin. Nr. 48, 5. Dezember 2016, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 9. April 2019]).
- ↑ Frédéric Schwilden: Hip-Hop: Erklären Sie das Ihrem Nachbarn mal auf Kanakisch. 18. März 2014 (welt.de [abgerufen am 19. April 2019]).
- ↑ Hengameh Yaghoobifarah: Kolumne Habibitus: Welche Kartoffel bist du? Der Test. In: Die Tageszeitung: taz. 11. November 2017, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 19. April 2019]).
- ↑ a b Familienministerin: Schröder warnt vor Deutschenfeindlichkeit. In: Spiegel Online. 10. Oktober 2010, abgerufen am 9. April 2019.
- ↑ Simone Schmollack: Angebliche Deutschenfeindlichkeit. Kartoffeldebatte ohne Beweise. In: taz. 15. November 2010, abgerufen am 9. April 2019.
- ↑ PM: 10 Jahre Neue deutsche Medienmacher – und ein neuer Medienpreis: „Die Goldene Kartoffel“. In: neuemedienmacher.de. Abgerufen am 9. April 2019.
- ↑ Andrea Dernbach: Ein Jubiläum und eine Kartoffel für Julian Reichelt. In: tagesspiegel.de. 3. November 2018, abgerufen am 9. April 2019.
- ↑ David Hein: "Goldene Kartoffel": Julian Reichelt erscheint zwar zur Preisverleihung, lehnt den Preis aber ab. In: horizont.de. 5. November 2018, abgerufen am 9. April 2019.
- ↑ Rafael Buschmann, Marc Hujer, Gerhard Pfeil: Wie eine Traditionself. In: Der Spiegel. 25. August 2018, ISSN 0038-7452, S. 92–96 (Spiegel Plus).
- ↑ Von «Kartoffeln» und «Kanaken» – Löws schwere Kaderplanung. In: welt.de. 27. August 2018, abgerufen am 22. April 2019.
- ↑ "Kanaken" vs. "Kartoffeln" laut Podolski und Gündogan "ein Flachs". In: welt.de. 28. August 2018, abgerufen am 22. April 2019.
- ↑ 187 Strassenbande (Ft. AchtVier, Bonez MC, Gzuz & Sa4) – Ein Code. In: genius.com. Abgerufen am 18. April 2019 (englisch).
- ↑ Yassin – Haare grau. In: genius.com. Abgerufen am 19. April 2019 (englisch).
- ↑ Deutscher/Ausländer (Feat. Petty Mo) - Ali As. In: genius.com. Abgerufen am 18. April 2019 (englisch).
- ↑ Audio88 & Yassin – Schellen. In: genius.com. Abgerufen am 19. April 2019 (englisch).
- ↑ Fler – Schrei nach Liebe Lyrics. In: genius.com. Abgerufen am 18. April 2019 (englisch).
- ↑ Jan Delay – Kartoffeln. In: genius.com. Abgerufen am 18. April 2019 (englisch).
- ↑ JAW – Fremdkörper (2013). In: genius.com. Abgerufen am 18. April 2019 (englisch).
- ↑ K.I.Z. – Was willst Du machen?! Abgerufen am 20. April 2019 (englisch).
- ↑ PTK – Deutscher als du glaubst. Abgerufen am 24. April 2019 (englisch).
- ↑ Egotronic - An die Wand. In: genius.com. Abgerufen am 24. April 2019 (englisch).
- ↑ NMZS – Freaks 'n' Geeks. Abgerufen am 24. April 2019 (englisch).
- ↑ Ulrich Gutmair: Tag der Pressefreiheit: Jilet Ayse weiß Bescheid. In: Die Tageszeitung: taz. 5. Mai 2017, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 23. April 2019]).
- ↑ Silvia Bonachi: Einige Bemerkungen zum polnisch-deutschen Dialogdiskurs. In: Ulrike Hanna Meinhof, Martin Reisigl, Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik im Spannungsfeld von Deskription und Kritik. Walter de Gruyter, 2013, ISBN 978-3-05-006104-7, S. 362 (Vorlage:Google Buch).
- ↑ Polens neue Kartoffel. In: taz vom 26. Juni 2006.
- ↑ Deutsch-polnisches Verhältnis: Kaczynski wettert gegen Berlin. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 21. April 2019]).
- ↑ Alexander Schwabe: Deutsch-polnisches Verhältnis: Die Quadratur des Dreiecks. In: Spiegel Online. 4. Juli 2006 (spiegel.de [abgerufen am 21. April 2019]).